auf den Spuren von Ute & Dirk Prüter

rund um Lemmer (NL)

… in Bildern

Chaletpark de Brekken
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… in Worten

Ist Formentera nicht immer eine Reise wert?
An sich schon, und so hätte der Jahreswechsel 2014/2015 eben dort stattfinden sollen. So wie erstmalig zwei Jahre zuvor. Temperaturen tagsüber zwischen 15° und 20°, häufig genug ein strahlend blauer Himmel, die Insel nahezu ausgestorben – nimmt man die Hochsaison zum Vergleich. Am Strand ist kaum eine Menschenseele anzutreffen, die Straßen haben wir Minuten lang für uns allein.
Doch wenn man lange genug wartet, mit dem Buchen, wird es schwierig. Und teuer. Anfang Dezember fällt dann die Entscheidung. Kein Formentera. Über 1.000 €, nur für die An-/Abreise, für zwei Personen, das ist uns dann doch zu viel des Guten. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob wir den Flieger besteigen oder uns mit dem Auto einen Weg über die Pyrenäen suchen würden.
Rüdiger und Birgit, unsere Freunde aus Unna, mit denen wir gemeinsam aufbrechen wollten, kommen mit einer Alternative. Lemmer. Kleines Städtchen in Holland. Am Ijsselmeer. In einem Ferienhaus von Bekannten, das Rüdiger auf Motorradtouren zusammen mit dem Sohn des Eigentümers als Anlaufstelle diente. Ein kurzer Kontakt, ob die Hütte frei ist, klingt viel versprechend und wir haben Glück. Lässt sich einrichten.
Am 27.12. geht es los. Der letzte Samstag des Jahres. Der erste Tag des Winters, an dem es schneit. Zumindest ein bisschen. Aber wie es so ist, mit dem ersten Schnee, auf den Straßen herrscht Chaos. Von Köln aus hält es sich noch in Grenzen, aus Richtung Unna sieht es schon anders aus. Nicht nur die Verkehrshinweise im Radio berichten von Kilometer langen Staus. Letztendlich können wir uns aber in Anbetracht der Widrigkeiten nicht beklagen. Für die 275 Kilometer über Oberhausen und Emmerich brauchen wir gute drei Stunden. Dafür, dass wir auch mit dem Rad unterwegs sind, an sich eine gute Zeit. Bei der Tretmühle handelt es sich diesmal nicht um das Tourenrad, sondern um ein Faltrad, und das befindet sich in der Form, die ihm den Namen verleiht, im Kofferraum unseres Autos. Dennoch, mit dem Vorankommen können wir zufrieden sein. Es lebe der Winterreifen, der Bleifuß sowie eine starke Blase. Vielleicht kommt uns aber auch einfach nur zugute, dass das weiße Treiben nachlässt, je weiter wir gen Norden vorrücken. Räumen bei Arnheim noch Schneepflüge die Fahrbahn, so erübrigt sich auf dem letzten Drittel der Strecke deren Einsatz. Die letzten Meter haben wir dafür ein anderes Problem. Erschien auf der Karte die Anfahrt wie ein Kinderspiel, so sieht es in der Realität ganz anders aus. Mit der ausgedruckten Wegbeschreibung in den Händen und der Beschilderung folgend ist Lemmer selbst schnell gefunden, doch im Ort verliere ich die Orientierung. Auch die wiederholte Runde durch die Gassen des Städtchens verschafft kein Aha Erlebnis, und so greife ich zum Letzten. Dem Navi. Dem Outdoor Modell. Dem einfachen mit der Openfietsmap Karte des Zielgebiets. Zwar bin ich mit dem Auto schneller als das Gerät mit dem Bildschirmaufbau, doch nach einigem Vor und Zurück gelangen wir an eine Stelle, die mir vertraut erscheint. Wir hätten einfach nur Lemmer umfahren sollen anstatt den Schildern in den Ort zu folgen. Doch trotz der Überwindung dieses Hindernisses ist das Ziel noch nicht erreicht. Es gilt, noch das Ferienhaus zu finden. Die Hütte befindet sich auf einem Gelände, dessen Zufahrt durch eine Schranke geschützt ist. Bis dahin klappt noch alles. Im zweiten Anlauf, nachdem das Autokennzeichen von Schneeresten befreit ist, ganz so, wie Birgit es uns zwischenzeitlich per Mobilfunk hat wissen lassen, registriert die Kamera das vorangemeldete Nummernschild, und die Barriere öffnet sich. Dann stellen wir fest, dass die von Rüdiger erhaltene Adresse die der gesamten Ferienanlage ist. Und unter dieser Adresse finden sich circa 550 Parzellen. Durchnummeriert von A bis G und jeweils 1 bis irgendwas. Nach einer ersten Irrfahrt wird schnell deutlich – so finden wir unsere Bleibe für die vor uns liegende Woche nicht. Jeder Buchstabe steht für einen Hauptweg, von dem aus mehrere Stichwege nach rechts und links verzweigen, in Summe an die hundert, jeder so breit, dass man rückwärts raus muss, wenn man vorwärts rein wollte. Zwischen den Wegen, dort, wo weder Häuser stehen noch sich Gärten befinden, Wasser. Kanäle. Oder nennt man es hier Grachten? Egal, hilft uns jedenfalls nicht weiter. Der Versuch, unsere Freunde telefonisch zu erreichen, scheitert ebenfalls – wir bekommen nur die Anrufbeantworter zu Gehör.
Vor der Rezeption der Ferienanlage stehend habe ich eine Idee. Zwar kennen wir die Namen der Hauseigentümer ebenso wenig wie den Standort des Hauses, aber irgendjemand muss ja unsere Autokennzeichen angegeben haben. Vielleicht bringt uns das ja ans Ziel. Und tatsächlich, nachdem ein Pärchen vor mir ihr Pläuschchen mit der Dame hinter dem Empfangstresen beendet hat und weiß, an wen es sich hinsichtlich des bevorstehenden Erwerbs eines Hauses zu wenden hat, wird mir nach einigen Tastendrücken am Rechner weitergeholfen. G so-und-so. Und damit ich mich nicht verlaufe, gibt es noch den Plan der Anlage mit dem eingekreisten Ziel an die Hand. Augenblicke später findet die Odyssee ihr Ende. Rüdiger winkt uns bereits über den Kanal hinweg von der Terrasse aus entgegen, all zu viele Autos sind schließlich nicht unterwegs, dann dirigiert er mich im Rückwärtsgang neben seinen Wagen, und schließlich ist nicht nur die letzte motorisierte Fahrt des Jahres vollbracht, sondern wir erfahren auch noch, dass sich unsere Freunde eine halbe Stunde später zur Schranke begeben hätten, um uns in Empfang zu nehmen. Sie selbst wussten ja, wo sie hin mussten, und eine genauere Information, die für uns hilfreich gewesen wäre, hatten sie nicht.
Wie auch immer, wir sind froh, eine weitere Hürde erfolgreich genommen zu haben und beginnen, den mitgeführten Hausstand aus dem Kofferraum in das Quartier zu verlagern. Dass die besten Plätze bereits belegt sind? Abgehakt, wäre unseren Freunden auf Formentera auch nicht anders ergangen. Das Ute und ich uns mit dem „kalten“ Bad zufrieden geben müssen? Auch egal, auf der Baleareninsel hätten wir uns zu viert eine nicht viel wärmere Nasszelle teilen müssen. Dass aber geschätzte 10 Kilo Süßigkeiten darauf warten, nicht wieder zurück in den Wagen gepackt zu werden, wird nicht ohne Folgen bleiben – und sei es nur beim Blick auf die Waage. Nachdem alles zunächst einmal notdürftig untergebracht und der erste Redeschwall ausgeschüttet ist, drehen wir eine kurze Runde durch die Anlage. Viel zu sehen bekommen wir nicht mehr, denn es wird bereits dunkel.
Zurück im Warmen, die Hütte war über Weihnachten bereits bewohnt und entsprechend beheizt, folgt das Ritual, dass sich an den folgenden Abenden alltäglich wiederholt: Essen kochen, Abwasch, und etwas, das ich mal „holländischen Dreikampf“ nennen würde. Gab es in der Form zwar ebenso bereits in Balearien sowie Zuhause, aber nun befinden wir uns halt auf niederländischem Grund und Boden, was auch entsprechend gewürdigt werden sollte. Worum es dabei geht? Ums Karten spielen. Eine Runde Hearts, eine Runde Fürstenberg, und eine Runde keine-Ahnung-wie-das-Spiel-heißt. Handelt es sich bei Hearts (Herzen) um eine Disziplin, die für jeden, der Zugriff auf einen Windows Rechner mit installierten Spielen hat, nachvollziehbar und erlernbar ist, so genießen die anderen beiden Varianten eher Insider Charakter oder sind möglicherweise auch unter anderen Namen bekannt. Im Gegensatz zu Hearts, wo die Anzahl der Runden vom Spielverlauf abhängt, wer als erstes über 100 Punkte hat, verliert, steht bei den anderen beiden Spielen die Anzahl der Momente, in denen die Karten zu mischen und auszuteilen sind, fest; 5 Runden beim Fürstenberg und 15 Runden bei dem namentlich unbekannten Zeitvertreib. Zwar wird nicht um Geld gespielt, um dem Ganzen aber eine gewisse Ernsthaftigkeit zu verleihen, wird über alle Spiele hinweg eine Bestenliste geführt, in der der Sieger einen Punkt, der Zweite zwei Punkte usw. erhält, und so allabendlich der Tagessieger beziehungsweise der Gesamtsieger gekürt. Dass die männlichen Beteiligten sich um die ersten beiden Plätze streiten, während die Damen wie zufällig die Ränge drei und vier untereinander ausmachen, mag tief im Innern verankerten Jagd- und Urinstinkten geschuldet sein, doch wer weiß, möglicherweise wendet Frau auch einfach nur ihre ihr eigene Geschicke an, die Mann gar nicht in der Lage ist zu erkennen, um letztendlich vom vermeintlichen Erfolg geblendet die wirklich wichtigen Entscheidungen im Leben zu lenken, die andernfalls mit deutlich härteren Bandagen auszufechten gewesen wären.
Musikalisch wird das illustere Gezocke von einem lokalen Top 40 Sender untermalt. Ist es am ersten Abend noch ganz nett, den einen oder anderen Titel mal wieder zu hören, so beginnt es mich spätestens am dritten Tag zu nerven, als ein und das gleiche Stück schon wieder aus dem Lautsprecher tönt. Da ich jedoch weiß, dass mitunter auch mein Musikgeschmack nicht die uneingeschränkte Begeisterung unserer intimen Runde trifft, belasse ich es bei gelegentlichen Kommentaren und schlucke diese bittere Pille; das Leben ist ein Kompromiss, und ich möchte mir am allerwenigsten nachsagen lassen, dass mein Erfolg im Spiel nur auf akustischen Störmanövern basiert.
Nach dem ersten gemeinsamen Frühstück zu Zeiten, da in anderen Kreisen das Mittagessen aufgetischt wird, heißt es Frischluft tanken. Neben meinem Faltrad aus dem Kofferraum finden drei Räder unserer Gastgeber ihren Weg aus einer Laube auf den Asphalt und wir brechen auf zu einer Erkundungstour in den Ort, nach Lemmer. Bei gefallenen Temperaturen, auf den Kanälen bildet sich eine dünne Eisschicht, treten abermals Parallelen zu Formentera an den Tag. Weniger, dass es drei Kilometer durch Wohngebiete geht, auch nicht, dass der Ort wie das Umland durch künstliche Wasserwege geteilt ist, ebenso wenig der recht überschaubare Strand am Ijsselmeer, nein, es sind die vielen geschlossenen Cafes, Restaurants, Bars und Läden die den Eindruck vermitteln, dass es Zeiten im Jahr gibt, zu denen mehr los ist. Entsprechend wirkt das Dorf eher verschlafen und beschränkt sich in seinen Einkehrmöglichkeiten auf die Geschäfte, die mit ihrem Sortiment das abdecken, was unbedingt zum Überleben benötigt wird. In Anbetracht der selbst mitgebrachten Lebensmittel besteht allerdings kaum Bedarf zu erkunden, welche Vorlieben der Ureinwohner, so es ihn denn überhaupt in dieser Region des Landes gibt, im Supermarkt hat. Auffällig ist jedenfalls die große Anzahl deutscher Autokennzeichen, wobei Niederrhein und Ruhrgebiet überproportional vertreten sind, doch selbst Vertreter aus Wiesbaden sind zu entdecken.
Tags drauf fassen wir den Entschluss, die Gegend weiträumiger zu erkunden. Mit der Begeisterung, dies aus eigener Kraft zu tun, stehe ich ziemlich alleine da, was dazu führt, dass sich unsere Wege trennen. Ute schließt sich Rüdiger und Birgit an und nimmt den Platz auf der Rücksitzbank in deren Wagen ein, während ich mich für den auf dem Sattel entscheide. Unser gemeinsames Ziel, wenngleich auf unterschiedlichen Wegen: Sneek, der nächstgrößere Ort, gute 20 Kilometer nördlich von Lemmer entfernt.
Während die Fraktion der Automobilisten sich voll und ganz spontanen Vorschlägen des Navis anvertraut, verlasse ich mich auf eine am Rechner konstruierte Route, die mich vorzugsweise über Radwege führen sollte, kopiere diese auf mein GPS Gerät, und fühle mich nach einer dreiviertel Stunde Fahrtzeit und knapp 10 zurück gelegten Kilometern verlassen.
Der Weg endet vor einem Kanal. Eine Brücke gibt es nicht, einen Tunnel oder eine Fähre ebenso wenig, fliegen kann ich nicht, an Schwimmen oder Durchwaten ist mir nicht gelegen, und eine andere Möglichkeit, das gut 40 Meter entfernte andere Ufer zu erreichen, will mir auf die Schnelle nicht einfallen. Zwar liegt ein Kahn vertäut vor meinen Füßen im Wasser, allerdings fehlen jegliche Antriebsmöglichkeiten. Nichts zum Rudern, Staken, Ziehen oder Schieben. Also – zurück, und auf Gefühl weiter. Aus zwei Kilometern werden gute 16, von der knappen Stunde „Zeitverlust“ ganz zu schweigen.
Erneut geht es an den drei Jugendlichen vorbei, die auf ihren Enduros matschigen Boden umpflügen, ein paar hundert Meter hinter dem Deich am Ijsselmeer entlang, dann wieder in Richtung des von weitem sichtbaren Spannenburger Funkturms, dem ich bereits viel näher war. Was ich außer dem Umweg davon habe? Ich lerne das holländische Radeln nach Zahlen kennen, erhalte einen weiteren Blick auf den größten See des Landes, durchquere mit Sloten dessen kleinste Stadt und nehme eine neue Vokabel in meinen Sprachschatz auf. Dass Fietsen hierzulande die Fahrräder sind, war mir bereits bekannt, mit ein wenig Fantasie entnehme ich aber Verkehrsschildern, dass es sich bei Bromfietsen um die knatternden motorisierten Varianten handelt, die in aller Regel ebenfalls die Radwege benutzen dürfen.
Was außerdem deutlich wird ist, dass das Land seinen offiziellen Namen, Niederlande, vollkommen zu Recht trägt. Zu den höchsten Erhebungen zählen Brücken und Deiche – ansonsten ist die Gegend flach wie eine Flunder. Das sich meine Begeisterung für die Kanäle legt, dürfte in Anbetracht der Ursache, die dazu führte, mehr vom Land kennen zu lernen als beabsichtigt war, nicht verwundern. Doch auch darüber hinaus gibt es Dinge, die mich nicht gerade zu Stürmen der Begeisterung hinreißen. Die Gegend ist zersiedelt, überall sind Häuser in Sichtweite, es gibt nur selten einen Winkel, in dem man sich unbeobachtet vorkommt, auch wenn ich nichts zu verbergen habe. Ebenso machen die Menschen, denen ich begegne, einen sehr reservierten Eindruck. Kaum jemand erwidert meinen Gruß, statt dessen ernte ich eher skeptische Blicke. Na ja, andere Länder, andere Sitten. Auch in Skandinavien erschlossen sich Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft erst, als wir unsere Gegenüber direkt ansprachen.
Als ich in Sneek eintreffe, zeigt das Navi 42 gefahrene Kilometer. Ute, Rüdiger und Birgit zu treffen erweist sich komplizierter als angenommen. Ein Wasserturm als Anlaufstelle scheidet aus, da er zu weit von deren Parkplatz entfernt liegt. Eine Alternative mit einer über einen Kanal führenden Brücke erweist sich als ungeeignet, da es Kanäle und Brücken darüber gibt wie Sand am Meer, und so dauert es eine Weile, bis wir eine Kirche finden, an der man sich kaum übersehen kann. Mit unserem Wiedersehen einher geht die Erfahrung, dass Essen gehen in den Niederlanden, oder zumindest in Sneek, nicht unbedingt zu dem gehört, was man erlebt haben sollte. Die Speisekarten der Restaurants, an denen wir vorbei kommen, schrecken uns mit ihren Preisen ab. Dominiert wird das Angebot von asiatischen Küchen, doch auch bei diesen gibt es kaum ein Gericht für unter 15 Euro – meist steht eher eine 2 an erster Stelle. Die Hamburger Braterei, auf die unsere Wahl fällt, bietet zwar Gerichte für etwa den halben Preis, allerdings ist die Qualität eher bescheiden. Auch wenn das Etablissement nicht zu denen amerikanischer Ketten gehört, so sind Geschmack und Ambiente auch nicht besser; es gibt fettiges Fast-Food auf Hockern, die nicht zum Verweilen über die Nahrungsaufnahme hinaus einladen. Entsprechend zügig sind wir wieder draußen und in Anbetracht der vorgerückteren Zeiger der Uhr wird es auch Zeit für mich, den Rückweg anzutreten.
Was die Sehenswürdigkeiten de Stadt anbelangt, so habe ich nicht den Eindruck, viel zu verpassen. Einmal nicht richtig aufgepasst schlage ich den Weg in eine Sackgasse ein, die mich im Labyrinth der Grachten zum Umkehren zwingt, dann dauert es nicht mehr lange, und ich sehe ohnehin kaum noch etwas. Winter in diesen Breitengeraden bedeutet nun einmal, dass es zeitig dunkel wird, und es ist bereits 16:30 Uhr, als ich dabei bin, Sneek hinter mir zu lassen. Dazu kommt, dass das Rad ohne Beleuchtung ebenso wie die träger werdenden Akkus des Navis nicht dazu beitragen, unbekümmertes Kilometer fressen zu genießen. Zum Glück stehen aber alle paar hundert Meter selbst an kleineren Wegen Straßenlaternen, so dass ich nicht zusätzlichen Strom verbrauchen muss, um das Display des elektronischen Wegweisers ablesen zu können. Als ich jedoch erneut vor einem Kanal zum Stehen komme, habe ich meine ernsthaften Zweifel hinsichtlich der Qualität des Kartenmaterials von Nutzern für Nutzer. Am anderen Ufer liegt diesmal eine Fähre, eine größere, eine, auf der schätzungsweise sechs Autos Platz finden, ob sie aber für den Tag noch in Betrieb ist, ist nicht ersichtlich. Die Dämmerung ist bereits dem Nachthimmel gewichen, Lichter sind keine zu sehen, und der Betätigung eines Ruftasters folgt keinerlei erkennbare Reaktion. Nach einer gefühlten Viertelstunde Wartezeit, tatsächlich ist es nur die Hälfte, werde ich aus meinem bangen Hoffen erlöst. Von hinten nähern sich die Scheinwerfer zweier Autos, und auf der Fähre regt sich was. Augenblicke später senkt sich die Rampe des Kahns vor mir und ich folge mit meinem Faltrad den beiden Wagen.
Von der Brücke, von der aus sich der Fährmann zum Kassieren herunter begibt, ergießt sich ein aufgebrachter Wortschwall über mich. Den wenigen Brocken, die ich zu verstehen glaube, entnehme ich, dass der gute Mann sich darüber aufregt, dass ich unbeleuchtet unterwegs bin. Ob die Sorge meiner Sicherheit gilt, der Tatsache, dass ich ohne die Autos noch länger hätte warten können oder wer weiß was sonst noch, ich bekomme es nicht heraus, verspüre aber auch kein gesteigertes Interesse, dies in Erfahrung zu bringen.
Der Obolus für das Übersetzen beträgt keine zwei Euro, wobei ich mangels Klein- beziehungsweise fehlendem Wechselgeld gar nicht den vollen Betrag zu zahlen brauche, dann geht es weiter. Erneut dient mir der Spannenburger Funkturm mit seinen nun roten Lichtern als Orientierungshilfe, auf die ich mich langsam zu bewege. Ein Stück, bevor ich dort ankomme, hilft mir hellerer Schotter den befahrbaren Untergrund zu erkennen, dann habe ich wieder Asphalt unter den Reifen und der Radweg verläuft ein paar Meter versetzt entlang einer Straße, auf der Lemmer als nächster Ort ausgeschildert ist. Durchatmen. Jetzt könnten sogar die Akkus des Navis schlapp machen, doch sie halten durch und so lese ich um kurz vor 19:00 Uhr wohl behalten am Ziel angelangt ab, dass aus geplanten 60 Kilometer 20 mehr geworden sind, während mir mein Sitzfleisch unbesehen verrät, dass es sich an den anderen Sattel erst noch zu gewöhnen hat.
Die Runde tags drauf ein wenig über den Deich sowie noch einmal in den Ort ist da schon anspruchsloser, bringt mich, beziehungsweise uns, wir sind wieder zu viert auf Rädern unterwegs, auch nicht in die Lage, im Dunkeln und ohne Licht den Rückweg antreten zu müssen. Bevor die Dämmerung herein bricht und der blaue Himmel schwindet haben wir bereits wieder das wärmende Refugium erreicht.
Silvester werden wir uns nicht so richtig einig, wie der Tag zu verbringen ist, und entsprechend gehen wir getrennter Wege. Rüdiger und Birgit gondeln mit dem Wagen umher, Ute hütet zunächst das Haus, mich treibt es mit dem Rad in den Süden. Zumindest 30 Kilometer weit. In der Karte fand ich ein Naturschutzgebiet verzeichnet, und das erweckte meine Neugier. Gibt es hier noch anderes zu sehen als flaches, Kanal durchzogenes Land, Häuser stets in Sichtweite?
Es gibt! Leider ist der „Nationaal Park Weerribben-Wieden“ so weit entfernt, dass es beim Aufbruch nach dem Frühstück gegen 13:00 Uhr nur bis an den Rand des Reservats reicht, doch das Abstrampeln lohnt sich, lasse ich mal den Teil außer Betracht, der sich nicht von dem bislang kennen gelernten unterscheidet. Der attraktivere Teil ist die geschützte Zone – unbesiedelt, eine weitläufige Sumpflandschaft, laut Wikipedia etwa 90 Quadratkilometer groß, mit Moorwiesen, Schilfgebieten aber ebenso bewaldeten Flächen. Ich genieße die Ruhe und Beschaulichkeit so gut wie allein und würde die Runde gerne weiter ausdehnen, doch in Anbetracht der verbleibenden knappen Zeit mit Tageslicht belasse ich es bei den etwa fünf Kilometern zwischen den Knotenpunkten 10, 14 und 42, dann geht es zurück über Radwege entlang von Landstraßen. Überall wo mehrere Häuser nebeneinander stehen, und das kommt häufig genug vor, beschäftigt man sich mit Pyrotechnik, um das Jahr 2014 zu vertreiben. Es werden Böller gezündet und Raketen gestartet, als gelte es, das Land in Schutt und Asche zu legen. Etwas erstaunt bin ich, als ein Weinanbaugebiet auf meinem Weg liegt. Es sind zwar keine Berge, an denen sich fünf Meter unter dem Meeresspiegel die Reben ranken, aber die Stöcke gehen deutlich über das hinaus, was den Eigenbedarf decken sollte. Andernorts sorgt ein sich über ein paar hundert Meter hinziehendes Treibhaus für Abwechselung, sowie in Luttelgeest eine Dame, die mir mit ihrem Hund über den Weg läuft. Ich richte gerade die Kamera auf die dortige Kirche, die ich von weitem für einen Leuchtturm hielt, als mich die Holländerin anspricht. Ob ich mich für das Gotteshaus interessiere – es stehe zum Verkauf. So groß ist meine Begeisterung für die Immobilie denn doch nicht, ich frage vorsichtshalber auch erst gar nicht danach, was der Spaß denn koste. Statt dessen wechseln wir noch ein paar Worte. Bereichert um die Erfahrung, doch noch zumindest einmal mit einem beziehungsweise einer Einheimischen gesprochen zu haben, ziehe ich weiter von dannen.
Als ich in Lemmer um kurz vor 17:00 Uhr und somit kurz vor Ladenschluss und in herein brechender Dämmerung an einem Käsegeschäft vorbei komme, mache ich halt. Blieben unsere Bemühungen im Supermarkt vergebens, ein paar Scheiben Raclette Käse für die letzte warme Mahlzeit des Jahres zu erstehen, so ist mir ein Blick um die Ecke einen weiteren Versuch wert. Entgegen bisheriger Auskünfte, in Holland gäbe es dergleichen nicht, werde ich im Fachhandel eines Besseren belehrt.
Nur wenig später treffe ich auf dem Nachhauseweg ein bekanntes Gesicht. Es ist Ute. Sie ist zum Spätnachmittag zu einem Spaziergang aufgebrochen, entschloss sich zu einer Runde in den Ort und steuerte dort einen Laden an, in dem man sich auf den Verkauf von Produkten spezialisierte, die aus dem geronnenen Eiweißanteil von Milch gewonnen werden. Und, welch Überraschung, sie ist dort auf der Suche nach etwas fündig geworden, das man hierzulande eigentlich gar nicht kennt – Raclettekäse. Sachen gibt’s …
Mit der weiteren Tour durch Holland hat es sich dann auch ausgeradelt. Am Neujahrstag folgt noch ein Spaziergang mit Ute durch die Nachbarschaft und über die Felder, wir werden dabei Zeugen, wie erste Tannenbäume bereits entsorgt werden, Tags drauf geht es bei heftigem Wind zu viert im Auto nach Harlingen, einem Ort am Wattenmeer, auf dem Rückweg schlägt Rüdiger noch einen Schlenker ein auf den Deich, der auf 30 Kilometern Länge Nordsee und Ijsselmeer voneinander trennt, und einen weiteren Tag später ist er zu Ende, der Kurzurlaub über den Jahreswechsel.
Was den Berg an Süßigkeiten anbelangt, den wir bei der Anreise im Gepäck hatten, so haben wir uns tapfer geschlagen. Außer einer Anstandspackung Schokolade für die Gastgeber gibt es keine Reste. Bezüglich der Gesamtwertung im Kartenspiel kann zumindest ich mich ebenfalls nicht beklagen. Bleibt abschließend nur noch zu vermerken, dass nicht nur das Faltrad die gut 150 Kilometer auf holländischem Boden unbeschadet überstanden hat, auch die motorisierte Heimfahrt endet ohne besondere Vorkommnisse, und selbst eine Reise nach Formentera nicht lange auf sich warten lässt.