Rallarvegen i
Vorgeschichte
Sommerurlaub 2018. Für Ute und mich stellt sich die Frage: was tun? Wohin soll es gehen, in den schönsten Wochen des Jahres? Formentera scheidet aus, irgendwie. Die potentiellen Nachfolger des Ferienhauses bekundeten Interesse, drei Wochen im Urlaubsdomizil der letzten 16 Jahre verbringen zu wollen, wir sagten Ja. Eine andere Unterkunft auf der Insel kommt für uns einstweilen nicht in Frage. Zumindest im Sommer. Andere Ziele im Süden – Mallorca, Griechenland, Türkei? Vermögen mich ebenfalls nicht so richtig zu begeistern, für drei Wochen. Bei einer Anreise mit dem Rad, ja, gerne, warum nicht, jedoch sind meine Vorstellungen nur wenig kompatibel mit dem, was Utes Arbeitgeber für seine Bediensteten vorsieht. Drei Wochen am Stück müssen reichen, und die gefälligst in der ersten Hälfte der Schulferien von Nordrhein-Westfalen.
Eine Reportage im Fernsehen schließlich inspiriert uns. Es geht um Bahnreisen in Norwegen. Unter anderem wird dabei berichtet von der Bergenbahn, einer Strecke, die die Hauptstadt des Landes mit der Stadt verbindet, der sie ihren Namen verdankt. Auf etwa hundert Kilometern verläuft der Schienenweg oberhalb der Baumgrenze. Das durchquerte Gebiet ist ebenso Europas größte Hochebene wie Norwegens größter Nationalpark. Die Hardangervidda. In der funktionierte man die Pfade, über die einst Bahnarbeiter an ihren Einsatzort gelangten, um zum Radweg. Entsprechend seines ursprünglichen Verwendungszwecks heißt der Abschnitt heute noch so, was sich in Landessprache Rallarvegen nennt. Als wir dann auch noch im Internet ein Video von uns nicht ganz unbekannten Protagonisten stoßen, ist die Sache für mich klar. Was Vater, Mutter und Tochter schaffen, sollte auch für uns zu bewältigen sein. Geht aus dem Kurzfilm lediglich hervor, dass die Familie mit der Bahn an den Ausgangsort gelangte, so zeigt ein Blick in die Karte weitere Alternativen: in der Gegend laufen einige Radwege zusammen, aus denen sich ein Rundkurs konstruieren lässt.
Zunächst ist meine Überlegung, mit dem Auto nach Hirtshals zu fahren, zu dem Hafen, von dem aus ich bereits 2016 nach Island startete, diesmal mit der Fähre nach Larvik überzusetzen, auf der Numedal-Route nach Geilo zu radeln, dem Rallarvegen nach Flåm zu folgen, per Fjordfähren über Leikanger nach Vikøyri zu gelangen, über die nationale Radroute 3 aus eigener Kraft nach Kristiansand zu fahren und von dort aus auf dem Seeweg zurück nach Hirtshals.
Ein nächster Einfall ist, die erste Etappe abzuwandeln und auch Oslo in die Route mit einzubeziehen. Wenn die Landeshauptstadt schon nicht all zu weit entfernt liegt, kann man ja auch neben reichlich Natur ein wenig Kultur einplanen. Zwar ließe sich auch dies auf Pfaden des norwegischen Radwegnetzes bewerkstelligen, doch Satellitenaufnahmen lassen mich schaudern: der Abstecher in die geballte Zivilisation führt bestimmt einen Tag lang durch Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete. Entsprechend wird die Idee wieder verworfen. Oslo gerne, doch wenn dann irgendwie anders.
Der nächste Plan sieht vor, das Auto nicht in Dänemark stehen zu lassen, sondern es mit nach Norwegen zu nehmen. Hätte den Vorteil, dass im Fall der Fälle die Räder einfacher eingesammelt werden könnten, ließe allerdings nicht mehr zu, in Norwegen an einem anderen Punkt zu mit dem Radeln zu beginnen, als es enden zu lassen. Doch auch hierzu gibt es eine Lösung. Sie nennt sich Kanalroute und führt durch die Telemark. Ein weiterer Radweg. Über ihn könnten wir zurück nach Larvik gelangen, ohne dass die Kilometer das zur Verfügung stehende Zeitfenster sprengen. Außerdem entdecke ich, dass der Rallarvegen sich an einer Stelle gabelt. Knapp 20 Kilometer vor dem Ende in unserer Fahrtrichtung in Myrdal. Nutzen wir den bislang nicht beachteten Weg, lassen sich weitere Kilometer wie Höhenmeter sparen, die uns jedoch um die Schiffspassage auf dem Fjord bringen würde. Bildern nach ein ebenfalls beeindruckendes Panorama.
Letztendlich beschließen wir, nicht alle Entscheidungen im Vorfeld zu treffen. Ein wenig Raum für Spontanität kann nicht schaden. Ist das Wetter schön und liegen wir gut in der Zeit, sehen wir zu, auf die Fähre zu gelangen, andernfalls fahren wir eine Station zurück mit der Bahn und kürzen ab. Egal jedoch wie wir es anstellen, es wird deutlich: unsere Liegedreiräder könnten sich als hinderlich erweisen. Eine Abfahrt mit 20 Prozent Gefälle und holperigem Untergrund oder das Nachsehen zu haben, sollten sich die Vehikel nicht per Schiff oder Bahn transportieren lassen, sind uns die bequemere Form des Pedalierens nicht wert. Also back to the roots - zurück an die Anfänge unseres Reiseradlerlebens. Aufrecht Radeln. Sind wir zwar irgendwie mit der Zeit mehr und mehr von abgekommen, doch es gibt Schlimmeres. Müssen wir im Zweifelsfall die Hände während der Fahrt mal wieder schütteln und den Hintern zusammenkneifen.
Nachdem die essentiellsten Aspekte festgelegt sind, geht es an Details. Ein Stellplatz für das Auto wird arrangiert, ein Fährticket für die Hinreise gebucht sowie Campingplätze entlang der Route in Erfahrung gebracht. Der Rest ist mehr oder minder Kopfkino: wie wollen wir uns verpflegen, mit welchem Wetter ist typischerweise zu rechnen, werden drei Wochen ausreichen, um gut 1.000 Kilometer ohne Stress abzustrampeln? Bei häufig genug blauem Himmel wachsen Vorfreude wie Bedenken von Tag zu Tag und der 12-te Juli, der Tag des Aufbruchs, herbeigesehnt.
Reisetagebuch
Die nachfolgenden Einträge entstanden während der Reise.
Passt ein Satzende nicht zum Anfang,
hat sich ein falsches Wort eingeschlichen
oder fehlen Buchstaben, Punkte oder Kommas
oder sind diese in die falsche Reihenfolge geraten,
so mag es nach den Kilometern des Tages,
an Konzentration sowie Zeit und Muße für eine Korrekturlesung gemangelt haben und ich bitte um Nachsicht.
Wer Fehler findet, der mag sie behalten oder mir diese gerne mitteilen.
Ansonsten freue ich mich auch und gerade unterwegs über Mitleidsbekundungen, Durchhalteparolen, Tipps und Empfehlungen,
was ich mir auf keinen Fall entgehen lassen darf,
oder Anekdoten aus dem eigenen Leben, selbst wenn sie nichts mit dieser Tour zu tun haben.
Sollte während einer Tour die tägliche Berichterstattung mal auf sich warten lassen
– fehlende Kommunikationsinfrastruktur, leere Akkus oder Begegnungen mit netten Mitmenschen mögen die Ursache sein.
Nun aber: viel Spaß bei der Lektüre. Sollten beim Lesen Fragen aufkommen - fragen!
2018-07-24
12. Tag: 52 Kilometer (Gesamt: 649); 1072 Höhenmeter; 1150 Meter max. Höhe
Strecke: Røldal (10:30) – Flothyl Camping (17:30)
Wetter: bewölkt, 23°
Dienstag. D-Day. Dicke Wolken, Demut, Dankbarkeit. Es wird einer der sentimentaleren Tage. Wer bereits einige meiner Reiseberichte gelesen hat, der weiß, das diese immer wieder vorkommen. Ich mag sie. Sie gehören für mich dazu wie atemberaubende Landschaften, Begegnungen oder nicht alltägliche Erlebnisse. Es beginnt mit der Lektüre einer E-Mail beim Frühstück. Jörg schrieb mir. Meine Gedanken zum vorangegangenen Tag inspirierten ihn. Er zollt uns Respekt für die bewältigten Höhenmeter und berichtet von seinen nächsten Vorhaben. Liegeradtreff, das Liebäugeln mit einem neuen fahrbaren Untersatz, erneut dreirädrig, sowie einer Augenoperation. Ich lernte Jörg kurz vor dem Aufbruch kennen. Bislang ebenfalls ausschließlich per Internet. Was ihn für mich zu etwas Besonderem macht: ein Arbeitsunfall brachte ihn um seine Sehkraft. Anstatt sich aber geschlagen seinem Schicksal zu ergeben, raffte er sich auf und sieht zu, soweit es die Behinderung zulässt etwas zu unternehmen. Unter anderem mit dem Rad. Seine Erlebnisse dokumentiert er auf einer Internetseite, deren Verlinkung an dieser Stelle jedoch letzten Reisevorbereitungen zum Opfer fiel. Wird aber noch nachgeholt. Zuhause. Nach der Rückkehr. Wenn es Jörg recht ist. Einstweilen bin ich dankbar, dass ich mit allen Sinnen genießen kann und mich keine Handicaps einschränken.
Bei tief hängenden, grauen Wolken hänge ich Jörgs Situation hinterher. Auf der Straße ist nicht viel zu verpassen. Die Gipfel um uns herum versinken im Dunst, der Verkehr nervt, rechts und links der Straße nichts Neues – Geröll, blanke Felsen, zunächst noch Birken und Nadelgehölz. Ute bläst Trübsal. Das Wetter sowie weitere 750 Höhenmeter am Stück schlagen ihr aufs Gemüt. Sie wäre lieber anderswo. Ich mag nicht tauschen. Auch Derartiges gehört für mich dazu. Beste Voraussetzungen, Gedanken ihren Lauf zu lassen.
Ab einem Tunnel wird es für uns ruhiger. Wir dürfen wieder außen herum, über die alte Straße. Immerhin ein kleiner Fortschritt. Dafür wird es ab dem Überschreiten der Baumgrenze nieselig. Begeisterung sieht anders aus. Die nächste Röhre durch den Berg dürfen wir befahren. Ich würde gerne außen rum, Ute nicht. Sie will sich die paar zusätzlichen Höhenmeter ersparen. Also durch den Tunnel. Ich will es meiner Frau nicht schwerer machen als es ist. Glücklicherweise haben wir auf dem Kilometer durch das Erdinnere niemanden direkt hinter uns, der Gegenverkehr bedrängt uns auch nicht.
Zurück am Tageslicht breitet sich das Fjell vor uns aus. Haukeliseter. Zunächst hellt sich die Stimmung auf, nach einer Weile auch der Himmel. Was wir zu sehen bekommen kann mit der Landschaft um Finse herum nicht konkurrieren, sieht aber auch nicht schlecht aus. Seen, Wasserläufe, Wiesen, Moos – die Vielzahl unterschiedlichster Grüntöne auf engstem Raum faszinieren mich immer wieder. Als auch die Wolkendecke mehr und mehr aufreißt, Blau sich durchsetzt sowie wärmende Strahlen der Sonne auf uns fallen, sind Trübsal blasen und Sinnieren abgemeldet. Lediglich die uns überholenden Fahrzeuge stören. Die meisten halten einen respektvollen Abstand, einige jedoch ziehen auf Handtuchbreite an uns vorbei.
An der Fjellstue auf halber Strecke sind wir halbwegs wieder versöhnt. Natürlich ist es viel zu voll und überlaufen, doch was eine Bäckerei anbietet, versöhnt. In der Sonne mit Blick über Teile der Hochebene genießen wir süße Teilchen, einen Kaffee und langsam zu trocknen. Selbst weitere Höhenmeter auf einer neuerlichen Tunnelumfahrung möchten wir nicht missen. Die Luft ist nicht gar so klar und frisch wie auf dem Rallarvegen, ebenso bietet das Panorama keinen Gletscher, doch die Weite, die Schneefelder und das Licht – zumindest für uns nichts Alltägliches.
Die letzten zwanzig Kilometer sind schnell abgespult. Von gut tausend Metern über dem Meeresspiegel zurück auf 650 können wir häufig genug die Räder laufen lassen. Ab 50 Stundenkilometern pfeift der Fahrtwind zwar gehörig durch die Klamotten, doch es ist nicht zu kalt. Ausklingen lassen wir den Tag schließlich auf einem kleinen Campingplatz an der Straße, an dem leider die Autos lauter vorbeirauschen als das Wasser im Fluss. Nicht perfekt, doch eine warme Dusche hat ihren Preis und es ist ein Klagen auf hohem Niveau, die einleitenden Gedanken in Erinnerung rufend.
Ausrüstung
Rad + Zubehör
- 2 Trekkingräder (1 x Herren: Koga Worldtraveller 29; 1 x Damen: Diamant Elan Deluxe) jeweils bereift mit Schwalbe Marathon Plus
- 2 Packtaschen Ortlieb Rack Pack (a 31l)
- 2 Paar Packtaschen Ortlieb Back Roller (4 x 20l)
- 1 Paar Packtaschen Ortlieb Front Roller (2 x 12,5l)
- 1 Lenkertasche Ortlieb Ultimate 4 (6l)
- 1 Lenkerkorb Klickfix (Uni Korb; 16l)
- 2 Fahrradschlösser Abus Granit X-Plus
- 2 Kabelschlösser Abus Globetrotter 202/90 zur Sicherung des Gepäcks
- 2 Spanngurte a 1.5 m
- Werkzeug, Flickzeug und Ersatzteile (u.a. 2 Schläuche, 2 Mäntel, Speichen, Bremsbeläge, Kettenschlösser, Kettenöl, Luftpumpe)
- 1 Ladegerät Busch & Müller E-WERK
Camping
- Zelt Hilleberg Staika + Footprint + 5 Sandzeltanker
- Isomatte Therm-a-Rest ProLite Plus large sowie Reparaturflicken
- Kopfkissen Therm-a-Rest Compressible Pillow
- Kunstfaserschlafsack Mountain Hardwear Lamina Z Flame
- großes und kleines Microfaser Handtuch sowie Waschlappen
- Ortlieb Faltschüssel, Wassersack + Duschvorsatz
- Scrubba Waschsack (Outdoor "Waschmaschine")
- Trangia Sturmkocher-Set mit Spirituskocher
- Brennspiritus, Streichhölzer, Feuerstein/-stahl
- Campingbesteck (Messer, Gabel, Löffel)
- Trinkbecher mit Faltgriff
- Spüli, Geschirrtuch
Bekleidung
- Kappe
- T-Shirts
- Pulli
- Slips
- Hosen
- Socken
- 1 Paar Wanderstiefel
- 1 Paar Sandalen
- Badehose
- Weste (Windbreaker)
- Multifunktionstuch (Buff)
- Regenbekleidung (Jacke, Hose, Gamaschen)
- Mütze
- 2 Paar Fahrrad Handschuhe (1 x kurz, 1 x lang)
- Fahrradhelm, Warnweste
Technik
- 1 Netbook Asus Vivobook E200H
- 2 GPS Geräte Garmin etrex (1 x Vista HCx, 1 x Venture HC) jeweils mit Kartenmaterial OpenFietsMap (s.u.)
- 1 Kamera Panasonic Lumix FZ38
- 2 Smartphones (Samsung; 1 x Galaxy S3 mini, 1 x Galaxy J5) jeweils mit AldiTalk Prepaid Karte
- 1 Sanyo eneloop USB-Ladegerät MDU01 zum Aufladen von 2 AA bzw. AAA Akkus
- 1 POWERTRAVELLER Minigorilla Ladegerät mit Adaptern für die zuvor genannten Geräte
- 1 Stirnleuchte
- Ersatzakkus für Navi & Taschenlampen
Sonstiges
- Kulturbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, Rasierapparat/Haarschneidemaschine
- Sonnenbrille, Lesebrille (man ist ja nicht mehr so ganz jung)
- Armbanduhr
- Klappschaufel, Toilettenpapier
- 3m Seil und Wäscheklammern
- 1 Rolle (5m) Duck Tape, handvoll Kabelbinder
Links
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Die verlinkten Seiten empfand ich im Zuge der Reisevorbereitung als informativ, lesens- und empfehlenswert.
Sollte wider Erwarten ein Verweis nicht mehr funktionieren,
so bin ich für einen entsprechenden Hinweis dankbar.
Die Reihenfolge der Einträge stellt keine Wertung dar, sondern entspricht im Wesentlichen der, in der ich die Seiten kennen gelernt habe.
- Roadmovie Rallarvegen
- Visit Norway - offizielle Reiseseite des norwegischen Handels-, Wirtschafts- und Fischereiministeriums
- Eine informative Seite auf die man unweigerlich stößt, wenn bei Google nach "rallarvegen radweg" sucht
Software
- Openstreetmap - freie Weltkarte
- OpenFietsMap - aus Openstreetmap generierte routingfähige Fahrradkarten (Schwerpunkt: Europa)
- GPS Babel - freie Software zur Konvertierung zwischen verschiedenen Datenformaten (u.a. kml/gdb)
- Google Maps - kostenlos nutzbare Straßenkarte
- Google Earth - weltweite geografische Informationen, auch kostenlos
Reisebekanntschaften
- Jörg Schmiel lernte ich im Vorfeld der Tour und hoffentlich noch näher danach kennen. Trotz schwerer Sehbehinderung aufgrund eines Berufsunfalls schreckt er nicht davor zurück, sich mit einem Liegedreirad auf die Straße zu wagen und lässt auch ansonsten den Kopf nicht hängen. Meinen Respekt, Jörg.
- Petra und Mathias trafen wir am 19.7. auf dem Rallarvegen. Sie kamen uns entgegen und scheinen auch darüber hinaus vor nicht all zu viel zurück zu schrecken.